Eröffnungsrede in Courage-Zentrum, Stuttgart (von Hanni Serway)

Liebe Besucher der Ausstellung,

ich möchte Sie sehr herzlich im Courage-Zentrum begrüßen und freue mich sehr, dass Sie alle gekommen sind, um die Bilder von Marcelino Varas anzusehen.

Vor einem Jahr etwa meldete sich Marcelino bei mir zu einem Kurs an. Er wollte, dass ich ihn wie einen Anfänger behandle, ihm die Grundlagen ganz von Anfang an beibringe, und das, obwohl er bereits in seiner Heimat Argentinien intensiven Unterricht erhalten hatte. Es zeigte sich schnell, dass das ein falscher Weg wäre, denn Marcelino war voll von Ideen, und seine Fähigkeiten waren bereits weit entwickelt.  Auch seinen Stil hatte er bereits gefunden. Alles, was ich tun konnte, war, ihn darin zu bestärken, auf diesem Weg weiter zu machen. Ich konnte vielleicht den einen oder anderen Hinweis geben, ihn auf die Möglichkeit zusätzlicher Techniken hinweisen und ihn herausfordern, seine Fähigkeiten zu erweitern.  Aber das war es auch schon. Für mich als Kursleiterin war und ist es beglückend, zu sehen, wie sich sein Talent entfaltet.

Seine Richtung, das haben Sie alle schon bemerkt, ist eine neue Form des Surrealismus. Obwohl der Surrealismus in Europa entwickelt wurde - seinen Ausgangspunkt nahm er von Paris - war das die Art von Kunst, die Marcelino Varas bereits mit 16 Jahren besonders ansprach.  „Wenn wir dieses Jahrhundert verstehen wollen, müssen wir uns mit der Kunst dieses Jahrhunderts beschäftigen,“ war das Motto seines Lehrers für Kunstgeschichte.  Sein Unterricht hat ihn dazu gebracht,  selbst zu malen. „Ich wollte mehr, als nur wissen, dass es existiert. Ich wollte etwas ausdrücken, ohne ein perfekter Redner sein zu müssen. Ich kann Gedanken einblenden, und der andere versteht es, und ich kann damit ein Gefühl oder auch eine Situation spiegeln!“

Bei dieser Faszination ist es kein Wunder, dass Marcelino seine beruflichen Reisen nach Europa als erstes nutzte, um die Werke europäischer Künstler, vor allem der Surrealisten, in der Wirklichkeit zu sehen und nicht nur auf Abbildungen.

„Wenn wir dieses Jahrhundert verstehen wollen....“, das ist ein Satz, der entscheidend ist für die Kunst. Oftmals wird Kunst heute als ein ganz und gar individueller Ausdruck betrachtet – und das ist sie sicher auch. So, wie jeder Mensch seine besondere Art hat, zu lachen, zu reden, sich zu bewegen, so hat auch jeder Künstler seine individuelle Art, sich auszudrücken. Dennoch ist jeder Künstler vor allem ein Mensch seiner Zeit, und in ihm vereinen sich die Erfahrungen der Gegenwart und der Vergangenheit sowie die Vorstellungen einer Zukunft, die aus beidem erwachsen kann. Eine Kunstrichtung kann niemals willkürlich entwickelt werden. Sie ist immer Ergebnis ihrer Zeit.

Surrealismus ist nicht ein bestimmter Stil zu malen oder zu schreiben.  Auf einem Bild von Chagall beispielsweise sieht man Menschen, Häuser und Tiere wie in einem Traum. Gemalt sind sie anscheinend spontan und frei. Yves Tanguy hingegen bevorzugt erfundene organische Formen, die aber sehr exakt und genau gemalt sind. Würde ich weitere Künstler beschreiben wollen, würden wir gemeinsam feststellen, dass jeder Künstler sich stark vom anderen unterscheidet. Die individuelle Besonderheit des Künstlers zeigt sich auch in den surrealistischen Kunstwerken.

Und dennoch haben die Surrealisten sich über mehr als 20 Jahre zusammen geschlossen und eine gemeinsame Richtung verfolgt. Ja, sie waren noch mehr als eine Richtung, sie waren eine Bewegung.
 
Ihre Gründung war die Reaktion auf die Gräuel des ersten Weltkrieges- auf das Versagen der menschlichen Vernunft, auf die Verkrüppelung des menschlichen Geistes. Die Fragen dieser Künstler waren grundlegender Natur: Wie konnte es zu einem solchen Krieg überhaupt kommen? Was ist der Sinn des Lebens? Wie kann man der menschlichen Dummheit begegnen, wie kann man sich einsetzen für diejenigen, die beraubt und entrechtet worden waren? Nach ihrer Vorstellung sollten Kunst und Leben nicht getrennt sein, der menschliche Geist sollte befreit und emanzipiert werden. Er war nach ihrer Auffassung mehr als nur Vernunft und Fakten. Als höchste Kraft galt das Unbewusste als Quelle der Erkenntnis. „Ich träume, also bin ich!“ Aber nicht um des Traumes willen sollte geträumt werden, sondern Traum und Wirklichkeit sollten miteinander verbunden sein. Kein Abdriften in den Elfenbeinturm, sondern Einfluss nehmen auf das gesellschaftliche Leben. Ihre Frage war, ob Kunst unabhängig genug sein kann, um auf die Bildung eines fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewusstseins einzuwirken.

„Der Mensch täte unrecht, wegen einiger ungeheuerlicher geschichtlicher Niederlagen zu verzagen: er hat noch die Freiheit, an  seine Freiheit zu glauben.“, schreibt André Breton – ein surrealistischer Schriftsteller.  Die Surrealisten fühlten sich angezogen von der sozialistischen Perspektive der Arbeiterklasse – und weil sie Fragen stellten, die sich bei vielen Menschen aufwarfen, ging ihr Einfluss innerhalb weniger Jahre weit über Europa hinaus. Und auch heute noch fühlen sich junge Künstler von ihnen angezogen.

Ein Wunder ist das nicht, wenn wir unsere Zeit ansehen. Alle menschliche Existenz ist gefährdet. Millionen Menschen sind ohne Arbeit, immer mehr Kinder leben in Armut, während der Reichtum anderer ins Unermessliche steigt. Einige wenige wissen buchstäblich nicht mehr, wie sie ihre Gelder am gewinnbringendsten anlegen sollen. Für viele andere hingegen sind Abhängigkeiten und Schikane durch staatliche Behörden tägliche Begleitung. Das gilt inzwischen weltweit. Und weltweit ist auch die Bedrohung unserer gemeinsamen Umwelt: Die Gletscher schmelzen dahin, die Eisbären verlieren ihre Lebensgrundlage, immer heftigere und häufigere Unwetter zerstören, was Menschen geschaffen haben, Umweltkrankheiten nehmen zu – und trotzdem wird die Zerstörungsarbeit an der Natur ununterbrochen fortgesetzt.

Macht es da noch Sinn, zu träumen? Gibt es noch Hoffnung? Oder sollte man nicht einfach aufgeben und sein Leben so gut leben, wie es eben geht? Vielleicht sich aus der Welt träumen, sich die Welt schön denken?

Das alles sind Fragen, die sich der Mensch zu Beginn dieses Jahrtausends stellen muss.  All diese Fragen würden sich auch die Künstler der surrealistischen Bewegung stellen.

Auch Marcelino Varas stellt solche Fragen. Dennoch betrachtet er seine Malerei nicht als politische Kunst, sondern lediglich als seine ganz persönlichen Gedanken, die er mit jedem teilen kann. „Jeder kann hinein interpretieren, was er mag!“, sagt er.

Bei einem Künstler, der aus Argentinien kommt, fragt man natürlich nach dem besonderen lateinamerikanischen Blick, vielleicht sogar nach dem besonderen argentinischen Blick. Wie könnte der aber sein?

Argentinien – das sind die großen Leidenschaften Tango und Fußball, es ist die einzigartige Qualität des Rindfleischs.  Es sind Bevölkerungsgruppen italienischer und spanischer Herkunft, aber auch Mestizen und indianische Ureinwohner. Es ist aber auch jahrelanger Terror der Militärjunta - und der Widerstand der Mütter des Plaza del Mayo, die jahrelang jede Woche auftraten und Aufklärung über ihre verschwundenen Söhne und Ehemänner verlangten. Und es ist der Argentinazo, als die Menschen gegen die Auswirkungen der Finanzkrise massenweise auf die Straße gingen, die sie im Jahre 2001 über Nacht um ihre gesamten Ersparnisse brachte. Und der dazu führte, dass innerhalb von von zwei Monaten 5 mal die Präsidenten ausgetauscht werden mussten. Und natürlich ist es unendlich viel mehr, aber man kann ein Land nicht in wenigen Worten kennzeichnen.

Was also wäre ein lateinamerikanischer Blick – was wäre lateinamerikanische Malerei? Für Marcelino Varas ist es ganz einfach: Es ist das, was Künstler aus Lateinamerika malen. Nicht der Hang zu Folklore ist lateinamerikanisch, nicht der Blick auf Argentinien allein. Denn was in der Welt geschieht, wirkt sich auf Lateinamerika aus, und umgekehrt.

Und so ist es nur folgerichtig, dass er seinen Blick auf Ereignisse und Tatsachen lenkt, die uns alle betreffen.
Der Kaffee aus Lateinamerika, der seinen Weg nach Europa findet, ist das Thema seines Bildes: „Senor Café“. Wer ist dieser Senor Café? Klein und unauffällig steht er auf der linken Seite des Bildes – zwar leicht erhöht, wie ein Denkmal sozusagen, aber dennoch unscheinbar. Das Bestimmende sind ja die beiden Kaffeetassen, auch sie stehen auf einem Sockel. Anscheinend sind sie das Wichtigste. Als nächstes fällt einem die Karte auf, die am Boden liegt. Auf ihr sind die Wege eingezeichnet, die der Kaffee nimmt – von Lateinamerika nach Europa.
Irgendwo ahnt man eine Landschaft, aber man kann sie nur ahnen, denn eine Mauer verbirgt sie. Irritierend das Bild an der Mauer: Es zeigt einen Raum, aber von diesem Raum lediglich den Fußboden und eine Wand. Ist das die Art, wie wir getäuscht werden sollen? Dass uns nicht die Wirklichkeit gezeigt wird, sondern nur ein Bild von einem Ausschnitt der Wirklichkeit? Und was ist nun hinter der Mauer? Man kann nur vermuten, dass die Mauer die eigentlichen Geschäfte des Senor Café verbirgt. Er ist das Sinnbild für die, die alles regeln. Die die Preise der Rohstoffe bestimmen – die die Rohstoffbesitzenden in die Armut zwingen, die auch nicht vor militärischem Eingreifen zurück schrecken, wenn sie ihre Profite in Gefahr sehen! Gibt es Hoffnung? Ja, vielleicht, denn der Putz bröckelt immerhin schon von der Mauer, nicht alle lassen sich täuschen von der glatten Oberfläche.

Das Bild „Die Gefangenen“ muss man sich auch mehrmals ansehen. Eine Ölpipeline, die durch die Wüste führt, ein Käfig, in dem Menschen unterschiedlicher Art gefangen sind und die Waage der Gerechtigkeit, die etwas aus dem Gleichgewicht geraten scheint. Darüber ein gleichgültiger blauer Himmel, der eine unberührbare und unveränderbare Schönheit vortäuscht. Es ist kein Zufall, dass die Waage aus dem Gleichgewicht geraten ist – bei Marcelino Varas ist nichts Zufall. Gefangen im Käfig sind in Guantanamo, denn darum geht es,  nicht nur Schuldige, sondern ebenso Unschuldige – und wo sind überhaupt die tatsächlich Schuldigen?  Sind es überhaupt diejenigen im Käfig? Oder sind es nicht eigentlich die Besitzer der Pipeline? „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Armen wie den Reichen gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen“, so kennzeichnet Anatole France die anscheinend vorurteilsfreie Gerechtigkeit. Aber damit  macht er auch deutlich, wer vor allem von den Gesetzen profitiert. Und auch Marcelino Varas macht dies deutlich. Denn im Käfig sind nicht diejenigen, die sich das Öl angeeignet haben.

Die Wirklichkeit ist mehr als die Welt, von der wir umgeben sind. Das war das Credo der Surrealisten. Auch Gedanken, Gefühle und Träume sind Wirklichkeit. Marcelino Varas sagt – ganz in diesem Sinne: „Träume, Gedanken und Realität sind voller Symbole. Ich habe Spaß daran, diese malerisch zusammenzusetzen und eine Botschaft, ein Gefühl oder auch ein Rätsel auszudrücken.“

„Die Wege zu mir“ – ist das nun der Ausdruck eines Gefühls? Ist es ein Rätsel - oder doch eher eine Botschaft? Wie in mehreren seiner Bilder stehen Mauern von Häusern, doch man fragt sich, warum sie nicht umfallen. Sie bestehen nur aus Fronten, sie haben keine Dächer, keine Innenräume, sind nicht bewohnbar.  Sie geben vor, etwas zu sein, was sie unmöglich sein können – ein Zuhause für Menschen.  Drei Wege verlaufen durchs Bild und enden plötzlich. Wohin führen sie, haben sie ein Ziel, ist es möglich, zu wechseln? Oder sind die Personen dazu verdammt, nebeneinander her zu laufen? Wer überhaupt sind die Personen? Ein Mann – der allein seinen Weg geht, und eine Frau mit Kind? Das wäre die übliche Art, es zu betrachten. Aber es könnte auch anders sein: z.B. eine Frau, die allein ihren Weg geht, und ein Mann mit Kind! Oder zweimal der gleiche Mensch – einmal mit und einmal ohne Kind!?

Es ist also doch ein Rätsel – aber vielleicht auch eine Botschaft. Die Botschaft, nicht in Schablonen zu denken und alles für möglich zu halten. In den Träumen die Grenzen der Wirklichkeit zu überwinden.

Zum Schluss möchte ich noch Ihr Augenmerk auf die vier kleinen Bilder lenken. Sie sind beispielhaft für Marcelino Varas Art zu arbeiten. Sie sind im Kurs entstanden, als wir verschiedene Techniken ausprobiert haben. In diesem Fall die Vermischung von Sand und Farbe. Marcelino hat  nicht einfach nur die Technik ausprobiert, sondern sie mit einer Bildidee gefüllt. Und er wäre nicht er, wenn nicht etwas entstehen würde, was man vorher noch nicht gesehen hat. Natürlich, zuerst war da einfach die Kugel, sie wurde ein zweites Mal abgewandelt, dann in einen Würfel verwandelt und zum Schluss entstand ein eigenartiges, bizarres Wesen, das die Kugel noch in sich trägt, aber sich anscheinend eigenständig bewegen kann. Eine Kugel braucht den Anstoß von außen, dieses Wesen hat aber Gliedmaßen, mit denen es sich selbst fortbewegen könnte. Es könnte fliegen, es könnte gehen, es könnte springen und hüpfen, und es könnte sich festhalten.  Die Titel verweisen auf seine Erfahrungen beim Programmieren: Der Anfangszustand, das ist die Alphaphase. In ihr passieren noch viele Fehler. Beim nächsten Zustand, der Betaphase, wurden schon viele Fehler ausgemerzt. Dann kommt der release candidat – in der das Aussehen überarbeitet wird, und dann endlich der Endzustand, in der alles gut aussieht und perfekt funktioniert. Release – Erleichterung.

Ich hoffe, ich habe Ihnen Lust gemacht, auch die übrigen Bilder genau zu betrachten und heraus zu finden, was sie Ihnen sagen könnten.
Marcelino Varas ist übrigens sehr gerne bereit, auch auf Ihre Fragen zu antworten.

Leinfelden, den 24.10.2008 Hanni Serway
 
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